30 Sep

Gemeinsame Stellungnahme der beteiligten Anwälte und der Fanhilfe Münster zur Einstellung des Verfahrens gegen den Polizeibeamten im Fall des Balljungen

Die Staatsanwaltschaft Münster hat das Ermittlungsverfahren gegen den Beamten, der im Mai 2019 einen minderjährigen Balljungen während eines Platzsturms der gegnerischen Fans geschlagen und verletzt hat, gemäß § 153a StPO eingestellt.

Die Vorschrift erlaubt es, von der Erhebung einer Anklage abzusehen, wenn die erteilten Auflagen und Weisungen geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen und die Schwere der Schuld dem nicht entgegensteht. Eine solche Entscheidung wird durch die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Amtsgerichts getroffen. Die Weisung besteht in Zahlung eines Geldbetrages von insgesamt 900,00 €, wovon die Hälfte an den Balljungen, die andere Hälfte an eine gemeinnützige Einrichtung zu entrichten ist.

Dies entsetzt uns aus mehreren Gründen. Es ist aber aus unserer Sicht keine Überraschungsentscheidung, da wir von Seiten der Staatsanwaltschaften häufiger eine mutmaßlich prinzipielle Parteilichkeit mit Polizeibeamten beobachten müssen.

Aus unserer Sicht steht vorliegend ein vorsätzlich begangenes Vergehen der Körperverletzung im Amt im Raum, das immerhin mit einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten geahndet wird, und nicht, wie die Staatsanwaltschaft annimmt, allenfalls ein Fahrlässigkeitsdelikt. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung dürfte sich in der Berichterstattung nicht nur in der enormen Reaktion von Fußballfans, sondern auch in den Reaktionen von weiten Teilen der Zivilbevölkerung dokumentiert haben.

In seiner Begründung für die Einstellung behauptet der Staatsanwalt, die mediale Auseinandersetzung sei maßgeblich durch die Eltern oder Anwälte initiiert worden und hätte zudem vornehmlich das weitere Verhalten der Polizei am Abend des Tattages zum Gegenstand gehabt, welches eindeutig gegen die Strafprozessordnung verstoßen hatte und Druck auf den Balljungen und seine Familie aufbaute. Das ist aus unserer Sicht eine Frechheit und verkehrt Ursache und Wirkung.

Nach unserer Erfahrung hat allein der Umstand, dass zahlreiche Videoaufnahmen des in Rede stehenden Vorfalls existieren und diese umgehend medial viral gingen, dazu geführt, dass dieser Fall von unverhältnismäßiger Polizeigewalt überhaupt zu einer formalen Reaktion der Staatsanwaltschaft geführt hat, was die damalige Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums Münster im Übrigen ebenfalls bestätigt.

Wir verweisen auf die Studie der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein, wonach das sogenannte Dunkelfeld bei Fällen von Polizeigewalt aufgrund verschiedener Aspekte ungleich höher ist als bei anderen Straftaten. Die Einstellungsquote in Verfahren von Polizeigewalt ist extrem hoch, die Verurteilungsquote extrem niedrig im Vergleich zur Gesamtzahl aller Straftaten. Singelnstein sieht in derartigen Fällen mutmaßlicher Polizeigewalt vor allem die Staatsanwaltschaften in der Verantwortung, denen er vorwirft, ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten zu wollen und von der Grundannahme geleitet zu sein, dass Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt in der Regel unberechtigt seien.

Genau dieser Eindruck wird uns im vorliegenden Verfahren bestätigt: Hier hat die Staatsanwaltschaft in einer viereinhalbseitigen Verfügung Ausführungen dazu gemacht, warum das Verfahren eingestellt werden kann. Diese Ausführungen zeigen deutlich, dass der Staatsanwalt hier einen bemerkenswerten juristischen Limbotanz aufführen musste, um zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu kommen.

Aus der staatsanwaltlichen Verfügung geht auch hervor, dass es noch ein persönliches Gespräch zwischen Staatsanwalt und beschuldigtem Polizeibeamten nach dessen polizeilicher Vernehmung gegeben haben muss, in der sich der Staatsanwalt einen „persönlichen Eindruck“ verschaffen konnte. Es dürfte nicht sonderlich überraschen, dass unseren Anwälten derartige Hofierungen von Zivilpersonen, die einer Straftat beschuldigt wurden, nicht bekannt sind.

Wenn im Vorfeld in der Presse kolportiert wurde, dass die erste polizeiliche Vernehmung des beschuldigten Beamten „aus Neutralitätsgründen“ sehr bewusst in Bielefeld stattgefunden hat, so muss man zwar festhalten, dass die Neutralität der Polizei durch die Vernehmung in Bielefeld in gewisser Weise gegeben war. Der weitere Gang des Verfahrens zeigt jedoch, dass auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Neutralität der Staatsanwaltschaft angezeigt gewesen wären.

Diesem strukturellen Defizit kann unserer Erfahrung nach nur durch öffentliche Skandalisierung der Vorfälle begegnet werden. Dies hat vorliegend sehr erfolgreich stattgefunden und aus unserer Sicht dafür gesorgt, dass dieser Fall nicht wie viele andere im Dunkelfeld verbleibt. Dass der Geschädigte hier auf die Hilfe der sogenannten „vierten Gewalt“, der Presse, setzen konnte und musste, sollte von der Staatsanwaltschaft nicht gegen ihn verwendet werden, sondern dieser zu denken geben. Solange die drei Gewalten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ihre Aufgabe nicht erfüllen, ihre Bürger auch vor gewalttätigen Übergriffen von Polizisten zu schützen, ist eine mediale Skandalisierung gleichgearteter Vorfälle zwingend.

Erschreckend ist unserer Ansicht nach auch, dass durch die Staatsanwaltschaft das Fehlverhalten des Polizeibeamten in erster Linie als sorgfaltswidrig dahingehend ausgelegt wurde, dass dieser in der Annahme gehandelt habe, einen KSC-Fan zu treffen, der unter Missachtung der Anordnung, den Platz lediglich bis zur Mittellinie zu stürmen, die Polizeibeamten hätte passieren wollen. Demnach wäre es wohl in Ordnung gewesen, KSC-Fans zu schlagen, was im Übrigen Videos in anderen Fällen ebenfalls dokumentiert haben (hier und hier).

Darüber hinaus lasse sich, so die Staatsanwaltschaft, die Aussage des Beamten, er habe diese Person durch einen vehementen Schubser/Stoß gegen die Brust eindrücklich zurückstoßen wollen, nicht widerlegen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieser dabei „abgerutscht“ sei und „ihn (gemeint ist der Stoß) aus nicht abschließend aufklärbaren Gründen in einer Art und Weise ausgeführt hat, dass der Beschuldigte im Ergebnis mit dem rechten Arm, indem er unglücklicherweise auch noch den Einsatzmehrzweckstock nach Art einer Schiene am Unterarm führte, den Kopf des Geschädigten traf“. Diese „doppelte Sorgfaltswidrigkeit“ (Wahrnehmungsfehler vermeintlicher KSC-Fan sowie Stoß/Schubser-Ausführung) führt letztlich dazu, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt von einem strafbewehrten Verhalten ausgeht, das eine sogenannte Opportunitätsentscheidung im Rahmen einer Einstellung gegen Geldauflage erforderlich macht.

Diese hoch kreative Sachverhaltsauslegung quält die Unschuldsvermutung bis zur Unkenntlichkeit. Die Staatsanwaltschaft macht sich die abwegigen und nur unter dem Druck des vorhandenen Videomaterials geäußerten Einlassungen des Beschuldigten zu eigen und verliert damit aus unserer Sicht jede kritische Distanz. Der Beschuldigte eines Strafverfahrens darf lügen und beschönigen, um den für sich bestmöglichen Ausgang eines Strafverfahrens zu erreichen. Die Staatsanwaltschaft hingegen ist zu Objektivität verpflichtet!

Dass dem beschuldigten Polizeibeamten, der im Rahmen seiner Vernehmung die Einsatzsituation völlig überdramatisiert dargestellt hat und auf Vorhalt der Videosequenzen mehrfach einräumen musste, dass diese sich nicht mit seinen Schilderungen in Einklang bringen lassen, attestiert wird, er habe einen Balljungen nicht derart angehen wollen, ist das eine. Das glauben wir ihm sogar. Dass er aber generell Menschen (und darunter fallen auch KSC-Fans!) so nicht behandeln wollte, glauben wir hingegen nicht. Und dies scheint für die Staatsanwaltschaft auch kein großes Problem darzustellen.

Dass ihm zugute gehalten wird, dass er an einem Ausgleichsgespräch mit dem Geschädigten interessiert war, mag rechtlich vertretbar sein, wir haben uns zu der Art und Weise, mit der die Familie bedrängt wurde und den Gründen der Familie, sich hierfür nicht herzugeben, bereits öffentlich auseinandergesetzt.

Die Staatsanwaltschaft billigt dem Beschuldigten ein sogenanntes „Augenblicksversagen“ im Rahmen seiner von „Gefahr geneigten Umständen“ geprägten, per Definition auf physische Konfrontation mit Dritten angelegten Tätigkeit als Polizeibeamten zu. Das stellt aus unserer Sicht die Gefahr eines Freibriefs für prügelnde Polizeibeamte dar.

Die Einstellung des Verfahrens zeugt von dem unausreichenden und unreflektierten staatlichen Umgang mit Polizeigewalt und kolportiert Bemühungen, Vertrauen in einen funktionierenden Rechtsstaat zu haben. Wir kritisieren die Ermittlungsweise und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf das Schärfste und sind erschüttert, dass selbst ein derart dokumentierter Fall von Polizeigewalt mit einer Einstellung im bestmöglichen Sinne für den Polizeibeamten abgehandelt wird. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ohne eine Verhandlung vor Gericht läuft jeglichen Vorstellungen von Objektivität und Transparenz zuwider und lässt Opfer von Polizeigewalt von staatlicher Seite aus wiederholt alleine.

Jetzt Fanhilfe anrufen!